Blick in den Spiegel

Sie sitzt ganz still auf ihrem Stuhl und starrt gegen die Wand.
Ihr Rücken drückt sich in den großen, dunklen Schreibtischstuhl und ihre Arme hat sie schützend um sich drapiert. Das lange Haar hat sie hinter ihre Ohren geklemmt, was ziemlich ungewöhnlich ist, da sie meint so eine große Ähnlichkeit mit Humpty Dumpty aufzuweisen. Ihre Augen blicken seelenlos in meine und ich kann die Schatten an ihrer Schädeldecke hängen sehen. Das schmerzt mich. Ich würde ihr gerne helfen und strecke meine Hand nach ihr aus, aber als sie ihren Blick hebt, erinnert sie mich an einen Straßenhund, welcher das erste Mal in seinem räudigen Hundeleben, Liebe erfahren soll, aber es nur kennt getreten zu werden. Eigentlich sehnt sie sich nach dieser liebevollen Berührung, aber sie hat zu große Angst geschlagen zu werden. Also lasse ich meine Hand wieder sinken, ich will ihr keine Angst machen. Doch als sie meinem Arm folgt, kleckst in ihre Augen ein Tropfen Enttäuschung und vermischt sich mit der Apathie. Zurück bleibt eine wirbelnde Mischung aus Gefühlen, welche es mir schwer machen auch nur ein sinnvolles Wort an sie zu richten. Sie irritiert mich, denn ich habe das Gefühl sie möchte allein sein, aber dann wäre sie sicher nicht hier. Sie gehört nicht zu den Frauen, welche zu feige sind Gesellschaft auszuschlagen.
Aber was will sie dann ? Soll ich ihr stumm gegenübersitzen und ihrem Geist dabei zusehen, wie er versucht sich durch die Lüftungsschlitze zu zwängen?
Ich denke, ich sollte nicht zulassen, dass sie in das Loch in ihrem Innersten stürzt.
Aber was, wenn das schon passiert ist? Was ist in diesem Loch? 
Ich ertappe mich dabei, wie ich mich nach vorne lehne und erwartungsvoll auf ihre Lippen starre, in der Hoffnung, dass sie etwas sagen möge.Doch sie starrt mich nur eindringlich an. Nein, sie blickt mir gar nicht an, sondern durch mich hindurch, sie sieht mich gar nicht mehr. Ich frage mich was sie jetzt sieht und wo sie ist. Wahrscheinlich bin ich zu einem kleinen, schwarzen Punkt in ihrem Augenwinkel zusammengeschmolzen.
Ich traue mich nicht mich zu bewegen, aus Angst sie könnte erschrecken, da ihr dann klar wird, dass sie doch gar nicht allein hier ist. 
Zaghaft atme ich aus und ihr Bewusstsein schnellt in die Gegenwart zurück, wie ich erwartet habe, ist ihr Blick gehetzt und erschrocken. Sie hat mich tatsächlich vergessen. Sie legt den Kopf schief und schaut mir prüfend in das Gesicht, dabei sieht sie aus wie ein kleiner Vogel.
Ein sehr kluger kleiner Vogel und wenn ich es mir recht überlege, dann sieht sie nicht wie ein Vogel aus. Sie ist ein Raubtier, ihre Augen verfolgen jede meiner Bewegungen und ihr Körper ist in gespannter Erwartungshaltung. Ich erschaudere und lasse die Erkenntnis zu:

Ich muss aufhören zu lügen!

Ich weiß ganz genau was in diesem Loch ist, welche Schatten ihre Gehirnwindungen verkleben und wohin es ihren Geist zieht. Ich habe sie schon oft in das Loch fallen sehen. Ihren panischen Blick beim Sturz, der dumpfe Aufprall am Ende. Jedes Mal kletterte sie mit baren Füßen die schlammige Grube hinauf, zerriss sich die Haut und Blut quoll zähflüssig aus unzähligen Rissen. Ihre Hände waren wund und zerschunden, die Nägel gebrochen. Jedes Mal sah ich die Erschöpfung an ihrem Geist haften, hielt sie fest, damit sie Halt hatte. Jedes Mal konnte ich nicht verhindern, dass sie kaum oben angekommen, wieder taumelte und zurück in das Loch stürzte.

Ich habe Angst.

Ihre Dunkelheit legt sich wie ein Leichentuch über mich, wenn ich zu genau hinsehe. 
Deswegen versuche ich sie nicht anzusehen. 
Ihre Blicke umkreisen mich, umzingeln meine Augen, bis sie sich in meinen Pupillen festbeißen. Quälend langsam blicke ich auf, endlich sehen wir uns an, in uns hinein, nicht nur aneinander vorbei. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf und ich fröstele über die Erkenntnis, dass wir die Wahrheiten des anderen noch besser kennen als unsere Lügen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, nur manchmal versuchen wir das zu vergessen. 
Meine Lippen scheinen zu Staub geworden zu sein und ich lecke mir stockend darüber, zurück bleibt ein metallischer Geschmack. 
Ich schmecke ihre Furcht und fühle mich schuldig. Es liegt in meinem Ermessen ihr zu helfen und doch weigere ich mich jedes Mal hinzusehen.
Sie hat Macht über mich und das weiß sie auch, sonst wäre sie nicht hier. Sonst wäre ich nicht bei ihr. Wir blicken uns lange stumm an, bis die Stille uns einhüllt, sich greifbar auf unsere Körper legt. Sie öffnet leicht den Mund und ich blicke in ihren Schlund, sehe tief hinab, bis auf den Grund ihrer Qualen. Ich bewege mich langsam auf sie zu und ziehe sie an mich, seufzend gibt sie sich meiner Umarmung hing. Wir verdrängen jeden Millimeter Luft zwischen uns, jede Erinnerung an das Grauen, welches eben noch durch diesen Raum zog, wie eine kalter Luftzug. Ich bekomme eine Gänsehaut durch ihre Präsenz, welche sich gegen mich drückt, mich festhält. Sich an mir festhält. 
Ich habe das Gefühl als würden wir in den Boden einsinken, aber es ist kein unangenehmes Gefühl. Die Schwere unserer Schuld zieht uns hinab und nagelt uns im Hier und Jetzt fest.
Meine eine Hand ist in ihren weichen Haaren vergraben, und drückt ihren Kopf gegen mich. Die andere wandert hilflos umher und will keinen Halt finden, hat Angst einen Teil ihres Körpers zu vernachlässig, einen Teil zu verlieren, einen Teil der mir durch die Finger rinnt. Aber sie verflüssigt sich nicht in unserer Umklammerung. Ich kann ihre Nägel in meinem Rücken spüren, sie krallt sich an mir fest,als würde sie einen starken Wind aufkommen spüren, als hätte sie Angst gleich umzufallen. 
Ich löse mich ganz leicht von ihr und schiele auf ihr Gesicht, ihre Augen treffen nicht meine, da sie ihre Lider fest aufeinander gepresst hält. Sie verschließt ihren Geist so vehement vor der Realität, dass ich leicht den Kopf schüttle. Sie merkt meine Reaktion und ihr ganzer Körper verändert sich, ihre Glieder werden in meinen steinhart und ihre Augen schnellen auf. Mich trifft ein Blick voll Kälte und Wut. Dahinter steht eine unausgesprochene Frage. Ihr Geist knallt mir mit aller Heftigkeit  ein “WAS IST!?” um den Kopf. Ich zucke erschrocken zurück und muss unwillkürlich grinsen.
Ihrer düsteren Miene nach zu urteilen, weiß sie warum ich so reagiere. 

Ich hasse sie von ganzem Herzen. Ich hasse sie, weil sie mir so viel abverlangt. 
Ich hasse sie, weil sie mir so viel bedeutet.

Ihr Schmerz wird auch immer mir weh tun. Sie will das nicht, dieser Umstand ist mir durchaus bekannt, aber was bringt es mir?
Letztlich bluten wir gemeinsam im Takt unseres Herzschlages.
Ich greife ihr Gesicht, nicht unsanft, aber dennoch zu energisch für ihre zerbrechliche Erscheinung. Ängstlich blickt sie mich an, versucht mir auszuweichen. Ich musterte sie eindringlich und erkenne so viel. Ich erkenne zu viel. Wir sind uns so ähnlich, zu ähnlich und dennoch will ich mich nicht in ihr wiederfinden. 
Ich bin es leid, und nähere mich ihrem Gesicht, sie reckt sich mir entgegen und ich lege meine Lippen sacht auf ihre. Ich schmecke ihre unausgesprochen Worte, sie huschen in meinen Mund und verkleben meinen Schlund. Ich nehme alles gierig in mich auf, tilge ihre Schuld, ihre Sehnsucht und alles was sie bereit war zu sein. Ich verschlinge sie. 
In inniger Umarmung verschmelzen wir, bis die Silhouetten zu einer einzigen verlaufen. 
Sie wird zu mir und ich werde zu ihr. 

Endlich nehme auch ich unsere Umgebung wieder wahr. Ich hatte die Zeit ganz vergessen und wundere mich über das Mondlicht, welches durch die großen Fenster hineinsuppt.
Es überflutet den Boden und ich bade meine Zehen darin. Zaghaft hebe ich meinen Blick, hole meine Gedanken in meinen Körper zurück. Manche wehren sich und ich kämpfe mit ihnen, als wären sie zu große Fische an meiner zu kleinen Angel, welche sich ächzend unter der Last biegt. Letztlich gewinne ich und sie flutschen zurück in meinen Kopf. Dort zappeln sie und ringen nach Luft, bis sie in den hintersten Ecken verschwinden. Ich bereite mich auf die kommende Ernüchterung vor, bereite mich auf das leere Gefühl der Einsamkeit vor. Ich richte meinen Blick noch immer nicht geradeaus. Dennoch nehme ich sie wahr und wie ihre Anwesenheit in meinem Augenwinkel zu einem Schatten verschwimmt. Ich hole tief Luft, richte mich auf und hebe meinen Kopf. 

Ich schaue vor mich, blicke in das Augenpaar vor mir und komme wieder ganz in meinem Körper an, als sich meine Augen im Spiegel treffen. 


4 Gedanken zu “Blick in den Spiegel

  1. Das ist viel besser als das was ich sonst von dir lese. Was nicht bedeutet dass es sonst schlecht wäre. Aber das hier ist zwei Ebenen höher. Es steht mir gar nicht zu so etwas zu sagen. Ehrlich gesagt kostet es mich sogar Überwindung. Ich finde nur jemand muss es tun. Das hier ist ein Quantensprung. Weil du mit unmissverständlicher Klarheit schreibst. Mir ist schon bewusst dass du das gerne absichtlich vermeidest. Weil es dich sonst selbst durchsichtig erscheinen lässt. Aber ist dir eigentlich klar wie gut das ist? Du hast echtes Talent. Das sag ich nicht weil ich dich mag, sondern weil es die Wahrheit ist. Was ich übrigens witzig finde weil ich zuerst auch eher in Traumsequenzen geschrieben habe. Du liest mich ja selbst schon länger. Was auch davor nicht schlecht war. Aber manchmal ist es zu dekorativ und irgendwie um die eigenen Worte verlegen. Was ich jetzt schreibe hat eine Mitte. Bei dir lese ich das genauso. Das ist sogar erstaunlich parallel. Auch deine Klugheit schimmert hindurch. Nicht auf angeberische Weise. Weil ich glaube dass wir das beide nicht mögen. Aber dein Fazit ist wesentlich präziser. Auch wenn du versuchst das ganze in der Luft hängen zu lassen. Geht mir ja meistens genauso. Aber ich ziehe gerade den Hut davor.

    Eines noch: Falls du so etwas wirklich nur nicht teilst, weil dir das zu intim ist, so fühle dich nicht dazu gezwungen. Aber falls du Sorge hast es könnte nicht gut genug sein, wir beide sind nämlich große Selbstzweifler auch wenn man das nicht immer merkt –
    Lass dir gesagt sein dass das vollkommener Quatsch ist. Es ist genial.

    Du hast lange genug im geheimen getüftelt. Es ist nun mehr als vorzeigbar. *g

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    • Dein Feedback bedeutet mir sehr viel, da ich dich für anspruchsvoll halte.
      Demnach fühle ich mich sehr geschmeichelt und ermutigt.

      Tatsächlich haben deine Texte von damals mich dazu animiert immer mehr dieser „Momentaufnahmen“ zu schreiben. Keine Kurzgeschichte, keine Lyrik – irgendetwas dazwischen. Geschichten welche mehr erzählen, aber auch viel Raum für Wortspiele und Metaebene lassen.

      Aber ja, ich habe zu grosse Angst „erkannt“ zu werden. Allerdings merke ich durch dich, dass sich das gar nicht so schlecht anfühlt.

      Danke!

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