Novalis

Seine Augen klebten an der weißen Wand vor ihm, während sein Körper in den blauen Stuhl unter sich schmolz. Er fühlte seinen Körper im Hier und Jetzt, wobei sein Geist weit weg war. Durch das offene Fenster drang kalte Luft und das Geschrei der Krähen. Das melodische Krächzen versetzte seinen Geist in einen Zustand der Katharsis. Ihm war nicht ganz klar wohin sein Geist gegangen war, aber es war ihm, als wäre er mit den Vögeln in die Lüfte entschwunden. Ein Luftzug, ein Geräusch und ein Schwall an undefinierbaren Erinnerungen umfing ihn. Eine Leere machte sich in seinem Körper breit, welche ihn zugleich erfüllte. Schmerz und Glück verwoben sich und durchstreiften seinen Blutkreislauf. Nichts erschien noch real, alles verwandelte sich in Traum und Erinnerung.
Plötzlich stand er auf einem Friedhof, das Sonnenlicht durchdrang die Baumwipfel, während die kalte Luft seine Haare zerzauste. Er begutachtet jeden der alten, verwucherten Grabsteine, aber er sah nur Zahlen und Namen. Dort lag niemand von Bedeutung, niemand den er kannte. Es war ihm ein Rätsel was genau ihn an diesen Ort geführt hatte, aber nun war er hier und einen Ausgang konnte er nicht ausmachen. Ziellos streifte er umher, außer dem Gesang der schwarzen Vögel, störte nichts den Frieden dieser Stätte.
Unter seinem festen Schritt zerbarst das trockene Laub und sprenkelte den Weg mit braunen Krusten. Ihn fröstelte es als, als der Wind flüsternd um seinen Kopf wehte.
Plötzlich vernahm er ein weiteres Fußpaar, neben seinen und seine Augen glitten langsam am Körper des fremden hinauf. Er trug schwarze Lederschuhe, welche in die Jahre gekommen waren, eine dunkle Stoffhose und einen feinen roten Pullover, mit einem Hemd darunter. Das Gesicht war ernst, von den Jahren gezeichnet, aber vor Leben sprühende, blaue Augen blickten ihn ruhig an.
“Mein Sohn, was machst du hier?”, verdutzt blickte er den alten Mann an. Er wirkte nicht wie ein Mann Gottes, sonder wie ein pensionierter Firmenchef, aber der Schein konnte ihn drügen, also antwortete er “Vater, verzeiht mir, aber das weiß ich nicht”. Der Alte lächelte und die Fältchen um seine kleine, hellen Augen kräuselten sich zusammen, sein ganzes Gesicht lachte, jeder einzelne Hautlappen strahlte Freude aus. Ihm wurde warm um das Herz und er wollte diesem fremden Mann vertrauen. Schweigend schritten sie nebeneinander her, bis die tiefe Stimme des Mannes ihn aus seinen Gedanken riss
“Hast du dich hier verloren ? Oder hast du dich erst gefunden ?”. Die eigenartige Frage irritierte ihn und ihn beschlichen Zweifel an der geistigen Gesundheit des Alten, dennoch antwortete er ihm “Ich fühle mich nicht verloren und ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man sich gefunden hat. Wie genau soll sich das überhaupt gestalten ? Ich suche oft nach meinen Schlüssel, aber da weiß ich wonach ich suchen muss und ich weiß wo er ungefähr liegen müsste. Aber wonach suche ich, wenn ich mich selbst suche ? Wie kann ich mich finden, wenn ich doch nicht weiß wo ich überhaupt bin?”, wieder trat Schweigen ein.
“Eben war ich noch zu Hause und blickte meine Wand an und jetzt bin ich hier, höchstwahrscheinlich habe ich mich also verloren”, wohlwollend lächelte der Greis ihn an “Oder du hast dich gefunden”. Krampfhaft versuchte er zu definieren, wie sich diese beiden Dinge von einander unterschieden. Also versetzte er sich in seinen Schlüssel und stellte sich vor, wie er verloren auf dem Sofa lag und man nach ihm suchte, bis man ihn letztlich fand und er seinen Sinn zurückerlangte.
“Bedeutet es, sich zu verlieren, seinen Sinn zu verlieren und ihn zu finden, sich zu finden ?”
“Was denkst du mein Sohn, hast du dich hier gefunden ?”.

Wieder blickte er den Man irritiert an, da er seine Frage nicht beantworten wollte oder es nicht konnte, sein Starrsinn trat ein und er wiederholte sich “Bedeutet es, sich zu verlieren, seinen Sinn zu verlieren und ihn zu finden, sich zu finden ?”, der Alte lächelte ihn seelenruhig an, blieb stehen, blickte in sein Gesicht und sagte “Was denkst du mein Sohn, hast du dich hier gefunden ?”. Säuerlich erwiderte er “Guter Herr, wenn Sie meine Frage übergehen, kann auch ich Ihre nicht beantworten”. Trotzig schritt er neben seinem kuriosen Begleiter her, bis er letztlich doch fragte “Wo soll hier überhaupt sein?”
-“Sage du es mir, mein Sohn”.
Langsam aber sicher wurde er wütend, wer war dieser alte Mann, was wollte er von ihm und warum stellte er so kreuz dämliche Fragen ? Er blickte sich um, in der Hoffnung letztlich doch einen Ausgang zu finden, jedoch sah er nichts außer Bäumen und Grabsteinen. Also machte er auf dem Absatz kehrt und ließ den alten Mann stehen. Lange steifte er an diesem verlassenen Ort umher, das Tageslicht erstarb langsam, der Himmel färbte sich dunkelblau und Sterne erstrecken sich soweit das Auge reichte. Vor ihm ragte ein großes, weißes Mausoleum auf, welches in der Dunkelheit hell erschien. Neugierde packte ihn und er trat näher heran, als der Alte plötzlich wieder neben ihm auftauchte “Hast du gefunden wonach du suchtest?”, erschrocken wandte er sich ihm zu “Sie schon wieder! Ich kann Ihre Fragen nicht beantworten, so lassen Sie mich doch einfach in Ruhe”. Der Greis blickte ihn ruhig an, strich mit den Händen über das Grabmal und sagte “Du suchst nach der Antwort und nicht nach der Frage”. Sein Entschluss stand fest, der Mann hatte wohl den Verstand verloren, denn wie soll man nach einer Frage suchen. Sein Blick fiel auf die Inschrift des Mausoleums, über welche der Alte eben noch zärtlich gestrichen hatte.
Dort stand sein Name.
Erschrocken rief er aus “Bin ich tot?!”.
Wohlwollend nickte der alte Mann ihm zu “Jetzt suchst du nach der Frage, mein Sohn”.
Aufgebracht drehte er sich im Kreis, “Aber ich bin nicht gestorben, ich kann mich zumindest nicht erinnern nicht mehr am Leben zu sein! Wie merke ich, ob ich lebe oder nicht?”.
“Wenn du dich suchst, dann lebst du nicht und wenn du dich gefunden hast, dann bist du tot”. Die kryptischen Aussagen des Alten versetzten ihn nur noch mehr in Aufregung “Sagen Sie mir endlich was ich hier mache und was das ganze eigentlich soll! Ich will zurück in meine Wohnung, auf meinen blauen Stuhl und zu meiner weiße Wand!”.
Seine Stimme hallte im Mausoleum wieder, darauf folgte Stille. Er blickte zu dem Mann, aber er war verschwunden, hastig lief er um die Grabstätte, suchte verzweifelt nach dem verrückten Greis, aber er war alleine. Panik breitete sich in ihm aus “Wo sind Sie!? Vater, bitte, beantworte meine Fragen!”. Verzweifelt untersuchte er die Grabinschrift, suchte nach der Frage und dort stand definitiv sein Name, das Datum fehlte. Er wusste nicht wann er geboren und wann er gestorben war. Aber seinen Namen kannte er.

-M.T.L

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